Anarchistische Sorge Struktur - Anarchist Care Edifice

Totale Institutionen

“Totale Institutionen”: Welche Implikationen für das Gefängnis? Vortrag gehalten auf
der Konferenz Schweizerischer Gefängnisärzte, Genf, 22.1.2010
Prof. Dr. Heino Stöver1, Institut für Suchtforschung an der Fachhochschule Frankfurt (ISFF)

Erving Goffman: Totale Institutionen

„Asyle“, das Buch, das 1961 veröffentlicht wurde und in dem der 1922 in Kanada und 1982
verstorbene Soziologe Erving Goffman den Begriff der „Totalen Institution“ ausgearbeitet
hat, hat ihn weltberühmt gemacht. Es ist neben „Stigma“ sein wichtigstes Werk geworden.
Sie kennen beide Bücher nicht? Kein Problem! Darf ich einmal um Handzeichen bitten, wer
den Film „Einer flog übers Kuckucksnest“ kennt – mit dem jungen Jack Nicholson? Dann
kennt ein Teil von Ihnen Erving Goffman bereits sehr gut, denn er hat sozusagen das
soziologische Drehbuch zu diesem Film geschrieben. Wer kennt die Antipsychiatrie von
Basaglia, Cooper & Lang? Auch für diese Bewegung der „Deinstitutionalisierung“, der
Auflösung von sog. „Irrenhäusern“ in den 60/70er Jahren hat Goffman einen wichtigen
Impuls geliefert.
Was hat uns aber ein fast 50 Jahre altes Buch heute noch zur Erklärung unseres (Arbeits-)-
Alltages noch zu sagen? Gut man mag einwenden, es gibt Bücher, die 500 Jahre alt sind und
mehr, und bei vielen noch auf dem Nachttisch liegen, und vielleicht sogar täglich gelesen
werden.
Das Buch „Asyle“ ist eine Sammlung von 4 Aufsätzen, die allesamt empirische
Untersuchungen über das Leben in „totalen Institutionen beinhalten, genauer gesagt
Untersuchungen über das Alltagsleben in psychiatrischen Anstalten, die vor 50 Jahren Asyle“
(amerikanisch: „Asylums“) genannt wurden.
Der Begriff der „totalen Institutionen“ hat sich im Folgenden mit der Verbreitung und
Übersetzung des Buches „Asyle“ in zahlreiche Sprachen verselbständigt und eine Art von
Eigenleben jenseits der eigentlichen Studie entwickelt. „Totale Institutionen“ haben sich als
soziologischer Fachbegriff sehr schnell etabliert.
Auch Michel Foucault verwendet in seinem grundlegenden Werk „Überwachen und Strafen“
ebenfalls den Begriff der Totalen Institution. Wie auch bei Goffman drehen sich zentrale
Aspekte von Foucaults Werk um Gefängnisse und Psychiatrien. Foucaults Interesse gilt dabei
jedoch in erster Linie der Geschichte und geschichtlichen Herleitungen moderner
gesellschaftlicher Prozesse. So ist Foucaults Kritik in seinem Werk „Überwachen und
Strafen“ in erster Linie eine Kritik der Macht – und seine Beiträge hierzu knüpfen an
historischen Fakten an. Für ihn sind eher die Mechanismen hinter den Institutionen
interessant, namentlich politische, gesellschaftliche, architektonische, genderspezifische und
vor allem disziplinierende Aspekte:

„Es [das Gefängnis, H.S.] hat seine innere Unterdrückungs- und
Züchtigungsmechanismen: despotische Disziplin. Das Gefängnis treibt die Prozeduren
der anderen Disziplinaranlagen auf ihre äußerste Spitze. Es hat die gewaltigste
Maschine zu sein, um dem verkommenen Individuum eine neue Form einzuprägen.
Sein Vorgehen ist der Zwang einer totalen Erziehung.“ (S. 302)

Goffman beschreibt den Begriff „Totale Institutionen“ folgendermaßen:

„Eine totale Institution lässt sich als Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich
gestellter Individuen definieren, die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft
abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes
Leben führen. Ein anschauliches Beispiel dafür sind Gefängnisse, vorausgesetzt, dass
wir zugeben, dass das, was an Gefängnissen gefängnisartig ist, sich auch in anderen
Institutionen findet, deren Mitglieder keine Gesetze übertreten haben.“ (S. 11).

Wichtig ist für Goffmans Grundlegung der Aspekt der „Wohn- und Arbeitsstätte“, wobei die
Betonung in diesem Zusammenhang auf dem „und“ liegt. „Totale Institutionen“ verknüpfen
alle Facetten der Lebensäußerungen an einem Ort, etwas das sich im normalen Alltag
zumindest insofern voneinander trennen lässt, als dass die meisten Menschen ein strikt
umgrenztes Zuhause und einen strikt davon abgegrenzten Arbeitsplatz haben.

Und weiter heißt es

„In der modernen Gesellschaft besteht eine grundlegende soziale Ordnung, nach der
der einzelne an verschiedenen Orten schläft, spielt, arbeitet – und dies mit
wechselnden Partner, unter verschiedenen Autoritäten und ohne einen umfassenden
rationalen Plan. Das zentrale Merkmal totaler Institutionen besteht darin, dass die
Schranken, die normalerweise diese drei Lebensbereiche voneinander trennen,
aufgehoben sind.“ (S. 17)

In Abgrenzung von anderen sogenannten „formalen Organisationen“ und zur Verdeutlichung
heißt es an anderer Stelle bei Goffman:

„Jede Institution nimmt einen Teil der Zeit und der Interessen ihrer Mitglieder in
Anspruch und stellt für sie eine Art Welt für sich dar; kurz, alle Institutionen sind
tendenziell allumfassend. […] Ihr allumfassender oder totaler Charakter wirdsymbolisiert durch Beschränkungen des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt sowie
der Freizügigkeit, die häufig direkt in die dingliche Anlage eingebaut sind wie
verschlossene Tore, hohe Mauern, Stacheldraht, Felsen, Wasser, Wälder oder Moore.
Solche Einrichtungen nenne ich totale Institutionen […].“ (Goffman 1973, S. 15f.)

Goffman unterscheidet fünf Gruppen von totalen Institutionen:

  1. Anstalten, die zur Fürsorge von Menschen eingerichtet wurden, wobei er hier explizit
    Blinden- und Altersheime, Waisenhäuser und Armenasyle nennt
  2. Orte, die der Fürsorge für Personen dienen, von denen angenommen wird, dass sie unfähig
    sind, für sich selbst zu sorgen und dass sie eine – wenn auch unbeabsichtigte – Bedrohung der
    Gemeinschaft darstellen. Hier nennt er Tuberkulose-Sanatorien, Irrenhäuser und Leprosorien.
  3. Einrichtungen, die dem Schutz der Gemeinschaft vor Gefahren dienen, wobei man davon
    ausgeht, dass diese Gefahren von den Verursachern beabsichtigt sind, so dass auch die
    Einrichtungen nicht das Wohlergehen der Abgesonderten zum Zweck haben. Hierzu zählen
    nach Goffman unter anderem Gefängnisse, Zuchthäuser, Kriegsgefangenenlager und
    Konzentrationslager.
  4. Institutionen, die vorgeblich darauf abzielen, bestimmte, arbeit-ähnliche Aufgaben besser
    durchführen zu können und die sich nur durch solche instrumentellen Gründe rechtfertigen. Er
    zählt hierzu Kasernen, Schiffe, Internate, Arbeitslager, koloniale Stützpunkte sowie große
    Gutshäuser aus Sicht jener, die dort in den Gesindequartieren leben.
  5. Einrichtungen, die als Zufluchtsorte von der Welt dienen und zugleich religiöse
    Ausbildungsorte sind, nämlich Abteien, Klöster, Konvente und mönchische
    Wohngemeinschaften
  1. Alle Angelegenheiten des Lebens finden an ein und derselben Stelle, unter ein und
    derselben Autorität statt.
  2. Die Mitglieder der Institution führen alle Phasen ihrer täglichen Arbeit in unmittelbarer
    Gesellschaft einer großen Gruppe von Schicksalsgenossen aus, wobei allen die gleiche
    Behandlung zuteil wird und alle die gleiche Tätigkeit gemeinsam verrichten müssen.
  3. Alle Phasen des Arbeitstages sind exakt geplant, eine geht zu einem vorher bestimmten
    Zeitpunkt in die nächste über, und die ganze Folge der Tätigkeiten wird von oben durch ein
    System expliziter formaler Regeln und durch einen Stab von Funktionären zugeschrieben.
  4. Die verschiedenen erzwungenen Tätigkeiten werden in einem einzigen rationalen Plan
    vereinigt, der angeblich dazu dient, die offiziellen Ziele der Institution zu erreichen. (S. 17)

Allerdings sind „Totale Institutionen“ keineswegs so homogen, wie Goffman sie darstellt.

Für unsere Belange geht es um Haftanstalten jeglicher Art. Goffman liefert uns die Blaupausezu erkennen wie geschlossene Welten wie Gefängnisse, Konzentrationslager, Kasernen undInternate „ticken“: Es geht darum was diese Totalen Institutionen aus den Insassen machen,und was diese daraus machen: Prozesse wie

  • Aufnahmerituale
  • Demütigungen,
  • Degradierung
  • Gewalt
  • Widerstand
  • ….

kennzeichnen die hierarchische Struktur aller Totalen Institutionen. Sie führen zu
oberflächlichen anstaltlichen Gegenwelten (Subkulturen) und Anpassungsleistungen:.

Grundsätzlich gilt, dass in Totalen Institutionen das Befolgen von Regeln belohnt und der
Verstoß gegen Regeln bestraft wird. Goffman arbeitet in eine Unterscheidung zwischen einer
primären und einer sekundären Anpassung heraus (1973, S. 54ff.):

  • Unter primärer Anpassung versteht er das Befolgen der von der totalen Institution
    gesetzten Regeln, wobei dies durchaus nur oberflächlich geschehen kann, um den
    Anschein einer Anpassung zu erwecken.
  • Sekundäre Anpassung beschreibt das heimliche Unterlaufen der entsprechenden
    Regeln, ohne dabei allerdings in einen offenen Konflikt mit der totalen Institution zu
    geraten. Hier spielen dann auch die dargestellten Subkulturen und die subkulturelle
    Regeln hinein, die ein Gegengewicht zu den offiziellen Regeln bilden und die
    unterschwellig befolgt werden. Die sekundäre Anpassung ermöglicht es dabei dem
    Betreffenden „sich der vollständigen Festlegung seiner Rolle und sozialen Identität
    [zu] entziehen, d.h. einen Rest Individualität zu bewahren.“ (Freigang/Wolf S. 46)

Festzuhalten bleibt, es liegt mithin nicht an der Zielrichtung, wie eine Einrichtung auf die
Insassen wirkt, und ob diese den Charakter einer totalen Institution hat, sondern es liegt an
ihrer spezifischen Organisationsform.
Die Folgen des Lebens in Totalen Institutionen gehen über ein Krankheitsbild hinaus, das wir
„Hospitalismus“ umschreiben: Dieses meint lediglich das Erleben eines Klinik- und
Krankenhausaufenthaltes, wobei hier sehr viel deutlicher und direkter auf die negativen
körperlichen und psychischen Folgen abgestellt wird. Als Symptome werden hier z.B.
angegeben: Psychosomatische und somatische Retardierung, Kontaktstörungen, Apathie,
Angst, Depressionen und eine erhöhte Anfälligkeit für Infektionskrankheiten.
Über dieses Erkrankungsrisiko des Hospitalismus hinaus findet im Vollzug v.a. eine
Ressourcenverringerung statt: Die vollzuglichen Belastungen von Bewegungs- und
Reizarmut, Unterforderung, und die unfreiwillige Delegation von Eigenverantwortung an
anstaltliche Gegebenheiten fördert den Versorgungscharakter der Gefängnisse und tragen
insgesamt eher zu psychisch belastenden Symptomen von Unselbständigkeit, Lethargie,
Depressionen, Langeweile Passivität, Interessen- und Mutlosigkeit bei. Die
Fremdbestimmtheit und Monotonie des Alltagsgeschehens führt zu Abstumpfung und
Antriebslosigkeit, das Eingeschlossensein fixiert die Aufmerksamkeit auf das eigene
Körpergeschehen und verstärkt Ängste, nicht angemessen behandelt zu werden, oder im
Notfall lange auf Hilfe warten zu müssen (für den in einigen Anstalten lediglich der
polizeiliche Beweissicherungsdienst vorgesehen ist); die erzwungene Inaktivität im
körperlichen wie im sozialen Bereich lässt Spannungszustände ins Leere laufen, eine der
wesentlichen Ursachen von Stresserkrankungen. D.h. es findet insgesamt eine
Ressourcenverringerung statt.
Schließlich bedeutet das Leben in Gefängnissen grundsätzlicher eine Deprivation. Die
Zwangsgemeinschaft, das Erleben des Gefängnisses als Totalität der Lebenssituation (Arbeit,
Wohnung und Freizeitgestaltung der InsassInnen vollziehen sich an einem Ort), Verlustwichtiger Freiheitsrechte (u.a. auch freie Arztwahl), Gewalt, klandestine Sexualität und
Rauscherleben.

Die Seite des (medizinischen) Personals

Die totale Institution weist in aller Regel zwei Seiten zwei Gruppen von Beteiligten auf. Im
Strafvollzug sind dies auf der einen Seite die Gefangenen, auf der anderen Seite die
Mitarbeiter. Damit zeigt sich auch ein Machtgefälle. Die eine Seite bestimmt, wo es lang geht,
die andere Seite ist darauf verwiesen, diesen Anweisungen und Befehlen zu folgen. Moderne
Strategien und Auffassungen gehen dahin bei den Insassen in zwei Bereichen anzusetzen:
zum einen darin, ihn in der Einrichtung gesund und lebenstüchtig zu erhalten, zum anderen
ihn für die Zeit danach gesund und lebenstüchtig zu machen. Die Stärkung von „Ressourcen“
ist dabei die Schlüsselstrategie. Denn: Behandlungen von gesundheitlichen Störungen in Haft
stärken das Selbstvertrauen der Gefangenen, indem ein Kontrollgewinn erzielt wird. Die Zeit
der Haft kann genutzt werden, um ihre Kenntnisse über präventives Verhalten,
Gesundheitsprozesse und –zusammenhänge zu vermitteln. Gesundheitspädagogische
Maßnahmen bieten sich vor allem in den Bereichen: Suchtprävention (safer use),
Infektionsprophylaxe (v.a. HIV/AIDS und Hepatitis, ‚safer sex’), sexuelle
Gesundheit/Sexualpädagogik, Schwangerschaft, Bewegung/Sport und Ernährungsbewusstsein
an.
Dabei werden sowohl Selbsthilfegruppen einbezogen und unterstützt (z.b. Anonyme
Alkoholiker, Narcotics Anonymous, Blaukreuz etc.) als auch peer education Strategien
verfolgt, d.h. die Anleitung von allgemein ‚akzeptierten’, ‚anerkannten’ Gefangenen, die mit
Wissen und skill-Training ausgestattet werden, um diese Kenntnisse und Fertigkeiten an
anderen Gefangene weiterzugeben.

Dem medizinischen Dienst kommt also eine Sonderrolle zu: Er kann eine Art Brücke der
Glaubwürdigkeit schlagen. Und viele Gefangene wertschätzen das: Hier in Haft wie sonst
nicht oder nur selten in Freiheit können erstmalig medizinische Behandlungen und
Beratungen und individuelle Gesundheitsförderungen wie Ernähung, Bewegung/Sport
durchgeführt werden, zu denen es aufgrund ihres Lebensstils in Freiheit nicht kommt.

Durch seine Sonderstellung und ethisch verankerte und eigentlich akzeptierte Unabhängigkeit
kann der medizinische Dienst aus der Totalen Institution ausbrechen – wenn er will! Die
Chance besteht, aber ob sie wahrgenommen wird und wie sie wahrgenommen wird, oder nicht
hängt von vielen Faktoren ab: persönlichem Engagement, Mut ihrer Vertreter, politische
Unterstützung!
Es kann nämlich auch ganz schnell gehen, insbesondere jüngere, neue Kolleginnen und
Kollegen des medizinischen Dienstes (v.a. unerfahrene Ärzte und Ärztinnen) einzubinden in
das sicherheitsdominierte System einer totalen Institution. Da es keine gefängnisspezifische
medizinische Ausbildung und damit Vorbereitung gibt, kann der Gefängnisleiter, und ggf. die
KollegInnen schnell frischen Mut und Initiative vereinnahmen und neuen Kollegen
Engagement zur Veränderung nehmen. Das führt oft dazu, dass ebenso beim Personal eine
schnelle und pflichtschuldige Anpassung an die Gegebenheiten des Gefängnisses erfolgt. Und
sei es das begrenzte Budget, das es bspw. unmöglich macht eine HCV-Therapie
durchzuführen. Dann hat der Arzt die monetäre Schere bereits im Kopf und entscheidet
vollzugskonform, aber nicht medizinkonform. Denn das System Totaler Institution ist sehr
hierarchisch organisiert, und sehr starr: Veränderungen bedeuten immer gleich Störung desImmergleichen und stellen potentiell eine Gefahr da, bzw. werden zu einer Gefahr
hochstilisiert – und zwar für alle Beteiligten!
Also fördert die Totale Institution auch bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen
Resistenzen, Widerstände, vordergründige Anpassungsleistungen.

Strafe, Schuld und Haltung des medizinischen Personals

Auch kann die Straftat die Wahrnehmung und den Umgang der Professionellen mit den
Gefangenen prägen– falls bekannt. Balint-Gruppen/Supervision bieten Möglichkeiten der
verbesserten Selbstwahrnehmung des Personals, sie sind aber nicht sehr verbreitet.
„Simulantentum“, Misstrauen können ebenfalls das Verhältnis zu den Patienten und das
„moralische Klima“ ebenso prägen.
Auch das ärztlich-medizinische Personal ist of der Feindschaft und den Forderungen der
Insassen ausgesetzt. „Mengele“ ist ein Name, der einem Anstaltsarzt in einem Gefängnis auf
dem Flur zugerufen werden kann. Dies ist ein Ausdruck der oft beschränkten medizinischen
Möglichkeiten hinter Gittern: Die freie Arztwahl besteht nicht mehr.
Trotzdem versuchen die MitarbeiterInnen und Mitarbeiter ihr Bestmöglichstes, um eine
reflektierte Beziehung zu den PatientInnen aufzubauen. Dies geht einher mit dem Wechsel der
Perspektive Gefangene werden zu Patienten. Aber sie bleiben beides! Dieses Spannungsfeld,
als „Bifunktionalität“ der Medizin im Strafvollzug bezeichnet, kann folgendermaßen
dargestellt werden:

Ethik

Bedenken des Gefangenen:


– How can I trust a doctor who is the employee of the prison director?
– What about the prison doctor’s confidentiality, what does he tell whom?
– What about the prison doctor’s professional qualification and professional independence?
– How can I use the doctor to make my prison life easier?
– What are his connections to outside doctors?
…….

Bedenken des Gefängnisarztes:

– How to manage confidentiality, privacy and true consent of the patient in the totalitarian prison environment?
– How to obtain trust by the prisoners?
– How to balance professional relationships with prisoners and custodial staff?
– How to deal with pressures and expectations by prisoners and the prison administrations?
– How to keep up complete professional independence while being employed and salaried by the prison administration?
– How to deal with medical procedures ordered by the prison administration?
– Is caring for prisoners compatible with working as public health officer and Health & Safety officer for prison staff?
– How to provide optimal medical care with up-to-date equipment in the low-resource setting of the prison?
…….

Bedenken des Gefängnisleiters:

– Are medical confidentiality, patient’s consent and the doctor’s professional independence compatible with safety and security in prison?
– Why shouldn’t the prison doctor certify inmates fit for disciplinary punishment?
– Why shouldn’t the doctor support security in prison by performing intimate body searches and drug testing?
– Why shouldn’t the prison doctor also take over the roles of a public health officer and a Health & Safety officer for the prison staff?
– Why does he not inform the security guards when he is treating abscesses
– How to warrant expensive medical care costs within paltry prison budgets?
……..

Dieses ethisch-moralische Spannungsfeld der Medizin im Strafvollzug wird versucht zu
kontrollieren. Ethische Prinzipien wie Schweigepflicht, Vertraulichkeit der Angaben werden
über weite Strecken eingehalten – und manchmal doch nicht! 1000 Fallen bestehen im Alltag
und eingeschliffenen Praktiken:

  • Anwesenheit eines Justizwachebeamter im Arztzimmer während der Konsultation?
  • Medikamentenausgabe durch Justizpersonal?
  • Besprechung mit dem Anstaltsleiter über gesundheitliche Probleme der Gefangenen?
  • Mitwirkung bei Zwangsmaßnahmen der Isolation?
  • Urinkontrollen für den Vollzug – Nutzung des Labors?

Dies sind nur einige Fragen. Allen Mitarbeiterinnen und Gefangenen muss die besondere und
separate Stellung des medizinisches Dienstes klar sein. Sie muss auch formell klargestellt und
für alle ersichtlich sein. Und es bedarf der MitarbeiterInnenführung, dass die ethischen
Prinzipien und deren Alltagsrelevanz von oben nach unten, manchmal auch von unten nach
oben – jedenfalls allen MitarbeiterInnen des medizinisches Dienstes und auch des
Sicherheitsdienstes klar gemacht werden – und zwar immer wieder!

„Äquivalenzprinzip“

Auf Basis internationaler Standards orientiert sich die Gesundheitsversorgung Gefangener
auch in der Schweiz und in Deutschland am „Äquivalenzprinzip“ (Gleichwertigkeit der
medizinischen Versorgung innerhalb der Gefängnisse mit der im jeweiligen Land
vorgehaltenen medizinischen Versorgung).
In den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen wird darauf eindringlich auf die Notwendigkeit
und Umsetzung des Äquivalenzprinzips verwiesen, ebenso in einer vergleichbaren Regelung
der Vereinten Nationen, die „Standard Minimum Rules for the Treatment of Prisoners“,
(http://www.unhcr.ch/html/menu3/b/h_comp34.htm)

Nehmen wir diesen Auftrag an, dann können zumindest für Deutschland anhand ausgewählter
Gesundheitsprobleme nicht nur vereinzelte Angleichungs- und Umsetzungsprobleme in der
Gesundheitsversorgung Gefangener verdeutlichlicht werden, sondern auch strukturelle
Probleme, die aus dem von der Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) entkoppeltenParallelsystem der gefängniseigenen „Gesundheitsfürsorge“ resultieren. Für Vorschläge zum Umdenken und zur Reorganisation der intramuralen Gesundheitsdienste komme ich noch später.

Gefängnisse als „Zwangskontexte“ bestehen nicht nur für InsassInnen, sondern auch für das
Personal. Dieses wird zwar nicht mit der vollen Wucht einer Totalen Institution konfrontiert,
(das Personal fährt zum Schlafen und zur Freizeitgestaltung nach Hause bzw. in Freiheit)
jedoch bleibt es nicht unberührt von dem Leben, der (Sub-)Kultur und dem Widerstand der
InsassInnen. Insbesondere wer lange in diesen Institutionen arbeitet, steht im Dilemma, auf
der einen Seite ein Garant für Kontinuität (hier: in der therapeutischen) Behandlung zu sein.
Auf der anderen Seite kann er/sie Gefahr laufen, Teil der Dynamiken dieser Institution zu
werden. Betriebsblind kann man allerdings in einem Krankenhaus oder in einer Schule ebenso
werden. Das besondere jedoch ist, dass in der Regel die Transparenz größer ist, was eine
Kontrolle und Qualitätsmanagement vereinfacht. Diskussionen um Rotation des
medizinischen Personals werden bereits seit über 30 Jahren geführt, allerdings hat sich in
weiten Teilen der Welt, das anstaltsarzt- bzw. Vertragsarzt oder eine Mischung dieser Formen
durchgesetzt.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: In Deutschland und in vielen Teilen der Welt werden
die Gesundheitsdienste in Gefängnissen von den Justizbehörden organisiert und finanziert.
Wir haben es also mit Parallelwelten zu tun, hier die Gesundheitsfürsorge, die parallel zur
Gesundheitsfürsorge in Freiheit entwickelt wird. In D. werden die Gefangenen aus ihrer
Krankenkasse entlassen und der Staat und en detail die Justizbehörden übernehmen die
Verantwortung für die Gesundheit der Gefangenen.
Allerdings haben wir es zumindest in Deutschland mit sich selbst rechtfertigenden Prozessen
zu tun: Kontrollen, Inspektionen und Aufsichtsstrukturen werden im selben organisatorischen
Kontext ausgeführt: die Fachaufsicht über die Anstaltsärzte obliegt dem Justizministerium,
oftmals gibt es gar keinen Medizinalreferenten mehr, der die Fachaufsicht ausüben müsste,
sondern es sind (bspw. Hamburg) Betriebswirte in der zentralen Stelle im Vollzug. Dieses
wiederum wird alles daran setzen, die Kosten der Therapien und aller
Gesundheitsdienstleistungen so gering wie möglich zu halten. Das heißt ein System
kontrolliert sich selbst und entwickelt sich nicht mehr als ganzes fort.
Eigentlich eine Parallelität zu den Totalen Institutionen, also ein ähnlich geschlossenes
System, in dem auf der Basis streng hierarchischer Strukturen Entscheidungen wahrscheinlich
noch eminenz- und nicht evidenzbasiert getroffen werden können.
Aus anderen Ländern kennen wir ein unabhängiges Inspektoratswesen, das in der Regel im
Gesundheitsministerium angesiedelt ist, und nur diesem berichtspflichtig ist.
In England haben Berichte unabhängiger Inspektoren dazu geführt, dass das System der
Gesundheitsfürsorge in Haft ausgegliedert wurde, und dem NHS zugeordnet wurde. Das NHS
geht nun also in die Gefängnisse und versucht dort dieselben Dienste wie draußen in der
Gemeinde anzubieten. Dieses System existiert ebenso wie in Frankreich, Italien, NSW und
auch in einigen CH-Kantonen etc. Ist das eine Lösung?
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich will Ihnen nicht unterstellen, dass Ihre Arbeit
stärker zu kontrollieren ist, als die Ihrer Kollegen, die nur in Freiheit arbeiten. Darum geht es
mir nicht. Sondern darum, die besonderen Strukturen der Gesundheitsversorgung in einer
geschlossenen Welt einer Totalen Institution Gefängnisse zu hinterfragen. Weil die Vorgaben
und die Kontrolle abgekoppelt vom Gesundheitssystem in Freiheit ist, kann sich ein solches
System erlauben sog. „Gefängnismedizin als sog. ‚defensive Medizin’ zu organisieren. Dasheißt bspw. kostenintensive Behandlungen werden auf die Zeit nach der Entlassung
verschoben, ein früher Behandlungsbeginn und damit eine verbesserte Heilungschance wird
verschenkt zugunsten kameralistischer Überlegungen. Nicht, dass wir die draussen nicht auch
hätten – im Ansatz – aber das System ist transparenter, nachvollziehbarer. Man könnte
einwenden, die Gefangenen könnten den Klageweg beschreiten – aber erleben sie das Urteil
noch in Haft? Selten!

Verschiedenen Beispiele – wieder aus meinem Land – ließen sich anführen, z.B.

  • die antivirale Therapie einer Hep. C – Infektion
    • die Substitutionsbehandlung. Nur um das zu verdeutlichen: In D. werden 30-50% aller
    geschätzten Opioidabhängige substituiert, in Haft jedoch nur 3-5% – in einigen BL
    überhaupt nicht (z.B. Bayern)
    • Infektionsprophylaxe (Spritzenabgabe in einem von 220 Gefängnissen)

Sehr verschiedene Standards – oder sogar Doppelstandards – können aber nur überall dort
existieren, wo keine große Transparenz gegeben ist. Während wir in Freiheit
Gesundheitsberichtserstattung kennen, ´Qualitätsmanagement’, Qualitätszirkel, Balint-
Gruppen und eine Fortbildungspflicht für Mediziner, kennen wir all das nicht oder nur in
wenigen Einzelfällen in Haft.
Wie ist eine Qualitätsentwicklung (z.B. Patientenzufriedenheitsmessungen) innerhalb der
Grenzen und der gegenwärtigen Organisation von Gefängnismedizin innerhalb des
geschlossenen Vollzuges leistbar? Sicher gehören dazu – einige Vorschläge:

Praktische Umsetzung der unabhängigen und neutralen medizinischen Leistung
• Stärkere Homogenisierung der Leistungen (auf der Basis evidenz-basierter Medizin)
• Alltags- und praxistaugliche Protokolle bzw. Handlungsanweisungen, die einerseits
detailliert und präzise genug sind, und andererseits etwas Speilraum zur individuellen
Anpassung an die institutionellen Bedingungen erlauben
• Unabhängiges Inspektoratswesen als Qualitätskontrolle
• Fortbildungen für alle Ebenen der Mitarbeiterschaft
• Adäquate und nachhaltige Antworten auf die zentralen Herausforderungen:

  • Drogenabhängigkeit
  • Infektionskrankheiten
  • Psychische und psychiatrische Probleme
  • Suizid und Selbstschädigung.
    • Forschung, Gesundheitsberichtserstattung als Grundlage weiterer Planungen

Schlechtere medizinische Versorgung als Teil der Strafe? Für die Menschen draußen steht die
intramurale Versorgung immer im Verdacht besser zu sein als draußen, für die Gefangenen
steht sie immer im Verdacht eine abgespeckte Version von Medizin zu sein. Wir könnten das
fortsetzen am Beispiel der besonderen Justizvollzugskrankenhäuser in D. die in fast jedem
Bundesland zu finden sind, und manchmal den Namen tatsächlich nicht verdienen.

Prison Health is Public Health!

Die Probleme und Schwierigkeiten, die aus dem von der öffentlichen Gesundheitsversorgung
entkoppelten Parallelsystem intramuraler Krankenversorgung entstehen sind vielfältig.
Beispiele aus der Suchtmedizin, Infektiologie und Psychiatrie veranschaulichen, dass diederzeitige medizinische Versorgung in deutschen Haftanstalten qualitativ hinter den Standards
der öffentlichen Gesundheitsversorgung zurückbleibt. Hinzu kommt eine inkonsistente
Datenlage über die Prävalenz der dargelegten medizinischen Probleme aufgrund eines
fehlenden beziehungsweise unsystematischen Monitorings. Damit wird einer der
grundlegendsten Standards für eine effektive Planung und Koordinierung der medizinischen
Leistungen und für die effiziente Allokation finanzieller Ressourcen in Haftanstalten nicht
umgesetzt.
Von der staatlichen „Gesundheitsfürsorge“ zu Konzepten der „Gesundheitsförderung“ in Haft
ist noch ein weiter Weg. Das Konzept der „Gesundheitsförderung“ in Haft ist lediglich in
Ansätzen im Sinne der Entwicklung einer „Betrieblichen Gesundheitsförderung“ entwickelt,
was aber nur die gesundheitlichen Interessen der Bediensteten widerspiegelt.

Für die Gruppe der Gefangenen gilt immer noch das traditionelle Konzept der
„Gesundheitsfürsorge“. Strukturelle Defizite in der Versorgung schwerer Erkrankungen wie
der Opioidabhängigkeit, der HIV-/HBV-/HCV-Infektionen und von psychischen Störungen
beziehungsweise Erkrankungen zeigen jedoch die Notwendigkeit für eine verstärkte
Verschränkung zwischen intramuralen und extramuralen Gesundheitsdiensten. In Freiheit
entwickelte, bewährte und evidenzbasierte Behandlungsmethoden werden noch immer zu spät
in die intramurale Gesundheitsversorgung integriert (vor allem in der Suchtmedizin). Ob und
wie dies im und mit dem bestehenden Parallelsystem in einer Totalen Institution zu ändern ist,
bleibt fraglich. Eine größere finanzielle Ausstattung der Gesundheitsbudgets in den
Gefängnissen wäre zwar wünschenswert, würde strukturelle Hemmnisse aber nicht beseitigen.
Überlegungen zur Reorganisation, das heißt zur Integration der gefängnisspezifischen
Gesundheitsdienste in die Gesetzliche Krankenversicherung, sind sehr lohnenswert.

Die Gesundheit der Gefangenen muss mehr und mehr als wichtiger Teil des
Resozialisierungsprozesses begriffen werden. Unbehandelte oder sogar in der Haft erworbene
Erkrankungen sind eine große Hürde für Versuche, sich wieder in die Gesellschaft
einzugliedern. Behandlungen gesundheitlicher Störungen in Haft stärken das Selbstvertrauen
der Gefangenen, da ein Kontrollgewinn erzielt wird. Die Haftzeit kann genutzt werden, um
Kenntnisse über präventives Verhalten, Gesundheitsprozesse und -zusammenhänge zu
vermitteln. Gesundheitspädagogische Maßnahmen bieten sich vor allem in den Bereichen
Suchtprävention (safer use), Infektionsprophylaxe (vor allem HIV/AIDS und Hepatitis, safer
sex), sexuelle Gesundheit/Sexualpädagogik, Schwangerschaft, Bewegung/Sport und
Ernährung an.
Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Haft kann nicht eindimensional erklärt und
verändert werden, etwa durch Appelle an individuelle Verhaltensänderung (zum Beispiel
Reduktion eines Risikoverhaltens). Gesundheit und das innovative Konzept der
Gesundheitsförderung schließen verschiedene Zielgruppen (Gefangene und
Bedienstete/Leitung) und andere Einflussfaktoren (Zellgröße, Licht, Ventilation, Wärme,
Ausstattung, Sanitäreinrichtungen et cetera) mit ein. In der Gesundheit der Gefangenen und
Bediensteten spiegeln sich die Haftrealitäten wider (zum Beispiel Depressionen, Ängste,
Infektionskrankheiten, Suizid, (sexuelle) Gewalt bei den Gefangenen; hoher Krankenstand auf
Seiten der Bediensteten). Deshalb kann Gesundheit nur durch Beeinflussung der übrigen
Haftbedingungen (die durch zum Beispiel Bewegungs- und Reizarmut, Unterforderung,
Versorgungscharakter der Gefängnisse, Überbelegung, Belegungsdichte tendenziell pathogen
sind) erhalten, hergestellt und verbessert werden.

Geschlossene „Totale Institutionen“ mit gesundheitlich stark belasteten Patienten stehen vor
großen Herausforderungen, auf die Antworten zu suchen sind. Bemühungen, strukturelle
Defizite in der Gesundheitsversorgung zu beheben, können zwar den Konflikt zwischen Hilfeund Kontrolle in Haft nicht beseitigen, aber zur besseren Bewältigung gesundheitlicher
Probleme und Notlagen beitragen. Über die Einführung der in Freiheit bewährten
Behandlungs- und Prophylaxeansätze hinaus muss in den Gefängnissen aber auch ein
Angleichungsprozess grundsätzlicherer Art eingeleitet werden: Zunehmend setzt sich im
Rahmen der Public-Health-Debatten die Erkenntnis durch, dass es erforderlich ist,
individuelles Verhalten nicht nur krankheits- und defizitorientiert zu untersuchen. Vielmehr
sind auch die sozialen Verhältnisse und spezifischen Systeme in ihrer Interdependenz und
inneren Dynamik auf ihr Gesundheitspotenzial hin zu analysieren. Das heißt: Wichtig ist nicht
nur reaktiv die Krankheit des Einzelnen zu behandeln oder bestenfalls Vorsorge(-
untersuchungen) und Impfprogramme durchzuführen, sondern darüber hinaus eine die
individuellen Ressourcen aktivierende, auf Partizipation und Befähigung gerichtete
Gesundheitsförderung zu betreiben, die alle Akteure in ein auf gesündere Lebensverhältnisse
ausgerichtetes Setting zu integrieren versucht.
Schließlich muss eine grundsätzliche Neuausrichtung der Gesundheitsversorgung in Haft
diskutiert werden, in der die öffentlichen Gesundheitsversorgungsträger auch die Versorgung
inhaftierter Menschen übernehmen.
Die Totale Institution Gefängnis kann (jedenfalls nicht absehbar) nicht aufgelöst werden. Die
Durchbrechung der entsprechend belastenden Strukturen und eine Art von „Auflockerung“
der totalen Atmosphäre und Abschwächung der nachteilig wirkenden Folgen kann jedoch
erreicht werden. Für die Medizin gibt es diese Möglichkeit das „Draussen“ nach „Drinnen“ zu
holen, indem die Organisation von der Gemeindegesundheitsversorgung übernommen wird.

Zum Schluss:

Ich weiss nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber ich weiss, dass es anders werden
muss, damit es besser werden kann!